Indische Dorfbewohner reagieren auf KFC und Tiktok

Diese Youtube-Videos sind ein Leerstück über Menschlichkeit. Babu ist 64 Jahre alt, Großvater und erledigt in seinem Dorf alle Arbeiten, die so anfallen. Er ist Farmer, Maler, Arbeiter, Besitzer eines Ochsen, liebt es vor Freude improvisierte Lieder zu singen, hat in seinem Leben schon einiges an Gauklern, Jahrmärkten und in seiner Jugend auch Filmen gesehen. Er ist ein einfacher und freundlicher Mann ohne hohe Ansprüche mit einem klugen Geist und einer gewaltigen Auffassungsgabe. Babu hat kein großes Wissen über Technologien und ferne Kulturen, ist aus seinem Dorf kaum herausgekommen, aber mit seinem von außen betrachtet „einfachen“ Wissen, reimt er sich die Dinge ausgesprochen gut zusammen. Babu spricht Hindi und wenn er lacht, dann sieht man die Zahnlücke, wo eigentlich seine oberen Schneidezähne sein sollten. Babu lacht viel und ist immer zu Späßen aufgelegt und manchmal glaubt er auch, man wolle ihn mit all diesen „neuen Dingen“ veräppeln. Sein großer Traum ist es, noch viel mehr von der Welt zu sehen und zu lernen, doch Babu ist kein wohlhabender Mann.

Babu Bhai Petlawad Wala ist einer der Inder aus der ländlichen Bevölkerung irgendwo in der Metropolregion Mumbai, die auf dem Youtube-Kanal Common Man Show in bald 200 Videos vorgestellt werden. In einer Interview-Situation werden er und einige andere Inder zu ihren Lebenserfahrungen, Lieblingsspeisen, Freizeit, Arbeit und sportlichen Interessen befragt. Wenn Babu der liebenswerte Großvater ist, dann entspricht Raeen rein optisch noch am ehesten dem westlichen Bild eines gebildeten jungen Mannes, vielleicht sogar einem Studenten. Aber Raeen ist kein Student. Er ist Schneider aus einfachen Verhältnissen; der einzige seiner Familie, der nicht in die Landwirtschaft gegangen ist. Raeen und Babu sind nur zwei der Sympathieträger, die in unzähligen Videos zu sehen sind. Die Videos aber sind eine Besonderheit, denn sie führen uns die Unterschiede unserer Gesellschaften vor Augen und das in einer Erzählart, die man sonst eher aus der Unterhaltung kennt: Reaction Videos. Die Macher des Youtube-Kanals setzen ihren Probanten jeden Tag neue Speisen aus aller Welt vor: Schwarzwälder Kirschtorte, Domino Pizza, Tabasco-Sauce, Chicken Teryaki, KFC Hühnchen-Bucket, Pringles Chips, Ferrero Rocher, Burger King Potatoe-Burger, Kinder Bueno und McDonalds Happy Meals.

In diesem Video sehen Rammu,  Babu und Raju zum ersten mal einen KFC-Eimer. Hühnchen im Eimer ist ungewohnt. Da ist doch sonst Farbe oder Wasser drin:

Für Babu, Raeen und die anderen ist es oft das erste Mal, dass sie die fremden Namen hören. Manchmal klingen nur die Namen vertraut, aber die Gerichte noch nie gesehen, geschweige denn gegessen. Das Format nutzt sich leider schnell ab, da es mittlerweile schon Dutzende Videos der sympathischen Inder beim Verzehr unbekannter Speisen gibt. Aus der Selbst- und Fremderkenntnis wird nach der Lobpreisung der zwanzigsten Süßigkeit schnell auch wieder ein reiner Zuseh- und Unterhaltungskanal. Man tut also gut daran, mit den Protagonisten zu sympathisieren, um auch beim Binge-Watching den Gefallen und das Interesse am Format nicht zu verlieren. Dafür bieten Babu und Co allerdings viel Fläche, da sie freundlich, lebensbejahend, neugierig und humorvoll sind. Die Untertitel fordern ein wenig Konzentration, aber man gewöhnt sich schnell daran.

Längst geht es nicht mehr nur um Industrial und Processed Food. Die Inder reagieren auch auf Videos über moderne Technologien aus der Landwirtschaft, von der Mondlandung, über die schier unendliche Größe des Universums, Bob Ross Malerei, moderne Kreuzfahrtschiffe, lustige Tiktok-Videos, Parcours Stunts, Sumo-Wrestling, Krankheiten und Seuchen und Naturkatastrophen. Auch Virtual Reality und Dronenflug dürfen die Inder ausprobieren. Nicht jedes Video hat einen hohen eigenen Mehrwert, doch jedes Video verdeutlicht uns, wie selbstverständlich wir all die Wunder des Alltags nehmen, die in Wahrheit Errungenschaften unserer Zivilisation sind. Das anfängliche Unwohlsein des augenscheinlichen Experimentier-Szenarios, bei dem zivilisatorisch vermeintlich Weiterentwickelte und besser Gebildete, die einfache Landbevölkerung „belehren“, verfliegt schnell. Darum geht es gar nicht. In den Reaction Videos sind es nicht die einfachen Menschen vom Land, die vorgeführt werden, sondern wir als Zivilisationsgesellschaft bekommen mindestens genauso einen Spiegel vorgehalten. Durch Unterschiede und Gemeinsamkeiten.

In diesem Video reagieren Babu, Sarru und Raeen rührend auf die beeindruckende Größe des Universums. So wie den dreien ging es uns allen auch schon einmal, als wir uns unserer Winzigkeit im Kosmos bewusst wurden:

Die Videos sind mehr als nur ehrlicher Produkttest und Konsumkritik. Wenn Babu minutenlang davon schwärmt, wie unterhaltsam, lustig oder leerreich er ein kurzes, aus unserer Sicht fast schon belangloses Youtube-Video fand und wie froh er ist, jedes Mal etwas Neues zu lernen, führt uns das unser Medien-Konsumverhalten vor Augen. Wenn er ungläubig mit den Armen fuchtelt und den Youtube-Stunt-Sportlern ein „langes Leben, Bruder“ wünscht, dann macht das etwas mit der Art, wie wir in unserer vermeintlich fortschrittlichen Gesellschaft miteinander umgehen. Wenn er darum bittet, KFC Colonel Sanders, den er dank Eimer-Aufdruck für den Gönner seines Essens hält, seinen Dank für die Mahlzeit auszurichten, und dem „Onkel“ ein langes Leben wünscht, dann ist das herzerwärmend, aber auch ein Lehrstück über Dankbarkeit. Babu ist wahrscheinlich einer der großherzigsten und höflichsten Menschen auf diesem Planeten.

Zu Herzen geht auch, wie die Inder sich mit dem Google Assistent unterhalten. Babu ist zunächst etwas schüchtern gegenüber der weiblichen Stimme, da er als älterer Mann Frauen sonst nicht so oft anspricht, aber voll des Lobes und der Bewunderung für die Klugheit der fast schon philosophischen Antworten. Raeen ist hingegen mehr an Fakten interessiert und Gopu scheint mit der KI eigentlich lieber flirten zu wollen:

Und noch etwas können wir uns bei Raeen, Babu, Sarru und den anderen abschauen: Sie alle leben in einer eher patriarchal geprägten Gesellschaft mit einem in unseren aufgeklärten Augen antiquierten Frauenbild, in dem Emanzipation wenig vorkommt. Aus einigen Äußerungen kann man verstehen, dass sie ein „modernes“ Frauenbild mit westlichen Rollen bisher schlichtweg nicht oder kaum kannten. Um so überraschter sind sie nach manchen Videos; beispielsweise einem Kickboxerinnen-Kampf. Keiner käme auf die Idee, zu sagen, dass sich die gezeigten Damen außerhalb einer sozialen Rolle verhalten hätten. Vielmehr freuen sie sich über das Gesehene, gestehen ein, sich vorher wohl getäuscht zu haben und äußern tiefen Respekt. Das ändert keine sozialen Rollen in großem Maßstab, aber es öffnet Wahrnehmung und Denken auf beiden Seiten. Wie viel besser könnten wir leben, wenn wir genauso demütig und einsichtig wären?

In einem Video, in dem die Dorfbewohner lernen, wie man Pizza backt, äußert Raeen: „Good thing must be said good, if you speak bad then it will become a sin“. Und so kann man diese wundervollen Menschen ebenfalls nur als gut bezeichnen und dankbar sein, für die Einblicke, die sie uns in ihr Leben und Denken gewähren. Das Format ist schön, weil es einem vor Augen führt, mit welchem Staunen, welcher Menschlichkeit und welcher Dankbarkeit wir selbst in Anbetracht all der Zivilisationserrungenschaften um uns herum durch die Welt gehen könnten.

Warum also tun wir es nicht?

Links

Common Man Show: Reaction Videos von indischen Dorfbewohnern

Novice Squad: Babu, Sarru, Assam und Raeen auf Exkursion

Ähnliche Formate (leider ohne Babu Bhai):

Reactistan: Reaction Videos von pakistanischen Dorfbewohnern

TRYBALS: Weitere Reaction Videos aus dem indisch/pakistanischen Raum

Tribal Women Try: Reaction Videos von Dorfbewohnerinnen